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Erzählungen
Nur aus Holz

Der prächtige Klostergarten erstreckt sich über mehrere Ebenen und ist sorgfältig angelegt. Gerade, als Marianne ihren Fuß an einer alten Bank vorbei zur nächsten Etage des Weges empor setzen will, um abkürzend zu einem hölzernen Bild zu gelangen, taucht ein Gärtner vor ihr auf . er sammelt kleine Äste und Blätter mit der Hand vom Waldboden. Sie grüßen sich wortlos. Er nimmt nur flüchtig Notiz von ihr und auch sie ist dankbar, ihm keine sichtbare Aufmerksamkeit schenken zu müssen. Es ist gut, nicht zu sprechen und einfach zu hören - auf die Geräusche des Gartens, auf das knarrende Wiegen betagter Bäume, das knisternde Brechen herabgefallener Zweige unter den Sohlen – ja es scheint, dass es lauter wird ums Ohr, wenn man schweigt.
An dem kleinen Holzrelief angelangt, fällt ihr Blick auf eine der knienden Figuren. Es ist der Augenblick der Kreuzabnahme. In feinsten Strukturen ist die Szenerie in der beinahe kindlichen Schnitzerei festgehalten. Nicht eben groß, vielleicht zwölf Zentimeter misst die Höhe der Gestalten, und jede ist detailliert ausgemeißelt, gewiss kein Riemenschneider, aber von liebender Hand kreiert.
Langsam, beinahe unmerklich bahnt sich Mariannes Auge den Pfad auf Marias leidverzerrtes Antlitz. Dieser fassungslose Moment der seelischen Erstarrung, dieser grenzenlose Aufschrei des Herzens im Angesicht dieser grausigen Endgültigkeit
Das kraftvolle Leben erloschen, welches Maria hervorgebracht, hier in diesem kleinen Baumstück wird es Zeugnis, Erinnerung, Geschichte und Gegenwart, und alle Mütter und Kinder scheinen in dieser geduldig in das weiche Material geritzten Erhebung gemeißelt zu sein.
Das Antlitz Marias ist von naturalistischer Prägung. Die schmerzgerafften Brauen über den geschlossenen Augen, die schlanken Hände in Arme und Brust des geliebten Sohnes vergraben, so als könnten die gekrümmten Fingerspitzen das Blut des zehren Leibes wieder zum Fließen bringen, der weiche Faltenwurf des schlichten Gewandes, welches Marias Knie umschließt, alles ist gründlich studiert und nachempfunden und wirkt in seiner eigentlichen Dramatik allzu gewaltig für das sonderbar winzige Format.
Ein Mensch, der über dreißig Jahre zählt, bleibt ein Kind – für die Mutter. Nie verblasst das Bild des zarten rundäugigen Wesens im Arm, gegenwärtig bleiben die Klänge der kindlichen Stimme, die Melodien des schwerelosen Lachens, der tausend neugierigen Fragen, des Weinens ums zerkratzte Knie nach unvermeidlichen Stürzen.
Die Erinnerungen an jede Phase des jugendlichen Erblühens und Entdeckens verschmelzen mit der Gestalt des erwachsenen Mannes, sie sind anwesend und begleiten beider Leben auf sonderbare Weise wie ein unzerreißbares Band… Und während sich Mariannes Gedanken tiefer und tiefer in die Urgründe menschlicher Verbundenheiten hinab bewegen, lösen sich vor ihren Augen allmählich die beiden Gestalten aus der ehernen Substanz des hölzernen Materials heraus.
Marias Augen schauen auf die klaffenden Wunden des Sohnes herab. Die Nässe des stoffdurchdrängenden Blutes ist mit Schweiß verdünnt. Es ist noch nicht getrocknet und quillt zwischen den sehnigen Handrücken hervor, befleckt ihr leinenes Kleid. Das feuchtkalte Nass rötet den Ärmel ihres schlichten Gewandes. Ihr Mund schreit stumm seinen Namen heraus, immer wieder, nein, es sind die Lippen, die sich bewegen, oder sind es die Gedanken, nein, das Herz, ein brennendes Getose in der Brust, ein Flehen des Fleisches, die schwarze Gewissheit des Geistes zu dämpfen, die sich nicht einmal mehr physisch tragen lässt: Nie wieder dem erwachsenen Kinde ins Auge schaun, seine irdische Stimme - verstummt, die Bewegungen seiner Glieder - erloschen, und in unendlich kalter Gleichmut wiegen die knarrenden Bäume ihre Kronen im Wind, geht Wild und Mensch weiter seinen Weg, krächzen Krähen ihr ewig misslingendes Lied aus der Höhe herab und vorbei an der fleischgewordenen Pieta.
Wie viele Söhne sind - nach diesem – auf Schlachtfeldern verblutet, in der Dunkelheit ein letztes Mal erwachend durch brennenden hoffnungsleeren Schmerz, dort, wo vorher ein Bein oder eine Hand gewesen. Und auf eben diesem gräsernen Sterbebett wird Jahre später ein Licht gezündet, wenn man sich erinnern kann - oder einfach Heu gewendet im Sonnenlicht, Jahrhunderte danach … oder Jahrtausende?
Es tröstet Maria gewiss in diesem Moment nicht, dass er für uns alle gestorben sein soll. Auch dass er sich `Gottes Sohn` nannte, lindert die Wunden der gepeinigten Mutterseele nicht. In nicht messbarer Tiefe und Zärtlichkeit begleitete Maria den jungen Mann auf seinem barbarischen Leidensweg. Erneut taucht der bildbewegte Geist der Betrachterin in die Ferne dieser barbarischen Stunde ein: Die silbrigen Dornen auf seinem Haupt, die bloßen, angeschwollenen Füße im Staub, aufrecht gehalten durch die bestialische Menge, die den Wegrand säumt und anfeuernd, neugierig und lustvoll die gigantische Last auf seinem Rücken im Gleichgewicht hält, denn sein eigener Leib – vermag es nicht, schreitet er schwankend vorwärts.Später dann die wuchtigen Schläge der Eisen, welche die spießigen Nägel durch die Haut des geliebten Kindes treiben, tiefer und tiefer, so dass sein dumpfes Stöhnen endlich in ihr den innig - paradoxen Wunsch entstehen lässt, dass er bitte, bitte nicht mehr leben, sondern augenblicklich erlöst werden soll.

Der Buchhändler

Dichter Verkehr beherrscht die Autobahn, eine strömende Nässe umschleiert jede Kontur und verwandelt die Strasse in einen Wolkenteppich. Behutsam tritt Leonora aufs Bremspedal, hebt die schmalen Augenbrauen gen Rückspiegel und legt die Rechte zugreifend auf das ledernde Steuer, und während sie den Wagen mit beherzter Eleganz durch die asphaltierte Seenlandschaft lenkt, vorbei an Möbeltransporten und zögerlich– schleichenden Kleinfahrzeugen, kein Kmh zu viel, aber mit einer Courage eines Rennfahrers, welchen Unwetter stören, aber wenig irritieren kann, stellt sie beiläufig fest:

“ Nun, Du hast wirklich viel von ihm erzählt...“

Ihre Lippen formen sich zu einem vielsagenden Rund, geräuschlos, ohne die Absicht einer verbalen Fortsetzung, und dann schließt sich ihr Mund, so, als sei alles gesagt.

Plötzlich - eine Baustelle, Geschwindigkeit 60... 40, dann Stau, erneuter Blick in den Rückspiegel. Ihre Lider überziehen wie Trauerflore den ansonsten heiteren Blick und setzen die wachen und schönen Augen in einen bemerkenswerten Kontrast. Das streng zurückgebundene, weizengelbe Haar, die energisch geschwungene Nase, die markanten Zähne, die noch dem geschlossenen Mund eine zart konvexe Gestalt verleihen, scheinen direkt aus der Prägung ihres Wesens heraus gewachsen zu sein.

Und einige Sekunden später, überraschend, auf scheinbar zufälligen Gedankenwegen, spricht sie weiter: „Was meinst Du, ob ich bei ihm ein Buch kaufen sollte ? “

Es gibt doch Augenblicke, wo die Neugier gepaart mit überschießender Fantasie alle Zweifel und Zurückhaltung sausen lässt, und dieser ist nun endlich eingetreten. Lange schon arbeitet Gerda daran, Leonoras Interesse zu wecken und mischt jedem Plausch eine Dosis jenes Stoffes bei, welche das Wissen um einen Menschen unmerklich zum Bedürfnis macht.

Überrascht ob der unerwartet verwegenen Idee der Freundin erhellt sich das Antlitz und verrät einen ungebremsten Triumph.

Gerda und Leonore sind lange schon vertraut miteinander, ja man kann sagen, daß sich über die vielen gemeinsamen Jahre und Erlebnisse eine - von einer tatsächlichen kaum zu unterscheidende - Verwandtschaft eingestellt hat, wie sie zwischen Geschwistern besteht, welche das Glück hatten, neidlos und von gegenseitiger Zuneigung getragen, zu keiner Zeit ihres Heranwachsens um die Gunst der Mutter oder des Vaters haben streiten zu müssen. Behutsam, fast zärtlich im Umgang miteinander, begleiten sich nun seit 52 Jahren ihre Lebensläufe, mal weit voneinander entfernt, mal in unmittelbaren Nähe, und nun, da beider Lebensradius enger zu werden droht, bewohnen sie seit vier Jahren dasselbe Haus, Gerda mit Ihrem Mann das Erdgeschoß und Leonore, winzig und zerbrechlich von Gestalt inzwischen, doch seltsamerweise immer noch stattlich, das erste Stockwerk einer ebenfalls in die Jahre gekommenen Jugendstilvilla, am Stadtpark gelegen.

Nie hat Leonore einen Zweifel daran gelassen, daß ihr das Alleineleben sehr wichtig, ja die Einsamkeit Quelle der Inspiration und Lebensfreude geworden ist – seit damals, als... als es ihr und beängstigenderweise auch Gerda so schien, als lösche der Weggang, oder sollte man sagen Rausschmiss von Leonores Mann, nicht nur eine große Liebe, sondern ein ganzes Leben aus. Gerda hat es hautnah miterlebt. Die erste Begegnung der Liebenden, das Sich-Finden, die Heirat, bei der sie natürlich Trauzeugin war, pompös, spektakulär, so daß sich das Ereignis wie ein ehernes Gebot in die anwesenden Gemüter meißelte, und Leonore war schön, scheinbar schwerelos und ansteckend glücklich an diesem Tag und - bereits schwanger.

Bisweilen sind Lebensgeschichten wenig beschreibbar, da sich ihre Dramatik und Brutalität vor dem Hintergrund einer unendlichen Gleichmut und Stille vollziehen und eine Achtlosigkeit zur Folge haben, welche uns nur zeitweise verlässt, wenn sich die Geschichten von Helden und deren Schicksalen in Romanen, Bildern oder Theaterstücken verklären, die ein trauriges oder triumphales Ende haben, oder unsere Anteilnahme dadurch herausfordern, daß Opfer und Schuldige, Sieger und Verlierer, das Edle und das Gemeine leicht zu polarisieren und eben deshalb voneinander zu unterscheiden sind. Die tägliche, anonyme Grausamkeit aber beschreibt sich nicht, sie geschieht und überwindet sich nicht durch ihr künstlerisches Ende, sondern nur durch die fortlaufende Zeit:

Und so löschte 5 Jahre darauf ein LKW das kurz darauf begonnene Leben der einzigen Tochter aus.

Noch am selben Abend dieses schwarzen Tags lag Leonora reglos auf ihrem Bett. Sie sprach nicht, aß nicht, der Körper zerfiel.

Ein ganzes Jahr verging, bevor sie in der Lage war, wenigstens bis vor die Tür zu gehen. Indess hatte ihr Mann begonnen, mit seiner Sekretärin ein Doppelleben zu führen...

Nein, fair war das Leben nicht mit ihr umgegangen, und doch, erwuchs der Freundin mit jedem Jahr des Älterwerdens eine rätselhaft -heitere Kraft und Vitalität.

Gerda, inzwischen oft müde und ein wenig bequem geworden, weiß um die Quelle dieser Kraft und hegt für die Freundin eine heimliche Bewunderung.

„ Mittwochs ist er nicht im Laden, da pflegt er das Grab seiner Frau!“

Leonora, um emotionale Resistenz bemüht, fährt unbeirrten Blickes weiter und schweigt.

Mattes Abendlicht durchdringt den Laden und beleuchtet die Fülle bunter Bücherregale. Kerzen, hölzerne Kreuze, Madonnen aus Keramik, schillernde Elfenfiguren und Spielzeugherzen tummeln sich zwischen wuchtigen Bildbänden, Nachschlagewerken, Zeitschriften, Romanen und Schulbüchern. Auf der gläsernen Theke spiegeln sich Stifte, Miniaturbücher, nostalgische Blechdosen, und eine Schale mit Bonbons und Gummibärchen

„Momentchen noch, joh? S`wird gleich ruhiger.“ Der Mann hinter dem Ladentisch wendet sich Leonora zu, dann widmet er sich wieder seinem Kunden. Er mag vielleicht um die siebzig sein. Leonora blättert, währenddessen sie aufmerksam die Szene verfolgt, in einem italienischen Kochbuch.

Mit sanfter Sprachmelodie und schwungvoller Gebärde reicht Leo dem einem jungen Mann die Hand. „ ..Da wünsch ich ihnen viel Glück bei der Bewerbung. Seien Sie Sie selbst, da brauchen Sie wirklich keine gedruckte Anleitung. Was soll ich Ihnen das verkaufen. Sparen Sie Ihr Geld.“
Als der Kunde schliesslich den Laden verlässt, springt Leo hinterher: „Hier für die Nerven, hilft immer…“ und steckt ihm eine Packung Traubenzucker in die Brusttasche.

Die Schellen an der Tür scheinen dem jungen Mann nachzulachen, und Leo steht gedankenversunken an der Ladentür. „Was man den jungen Leuten heute alles verkaufen soll…phh, wie bewerbe ich bewerbe ich mich richtig …wo bleibt denn da die Natürlichkeit…“

Aus den hinteren Räumen schallt helles Mädchengelächter. Dann kommt Anna, eine blonde Achtzehnjährige auf ihren Chef zu. „ Soll ich die Überweisungen noch fertigmachen, die liegen noch hinten…?“

„Ach Mädel, geh nach Hause, hast genug geschafft heute.“ Und mit herzlicher Geste schiebt er die junge Frau zur Garderobe.

„Also dies hier ... er bewegt sich langsam auf eine in einen Keller führende Treppe zu, Ist meine heimliche Hexenküche, da unten brodelt ein ..... Brunnen, das Elixier besteht hauptsächlich aus Schweiß, gewürzt mit guten Gedanken....Wollen Sie ? Und behutsam nimmt er ihre Hand und führt sie die abgetretenen Stufen herab.

Ein Raum, durch seine karge Ausstattung weit und hell erscheinend, nicht unfreundlich der breite Blick in ein verwildertes Gartenpanorama, übertrifft die Erwartung, was wohl hinter einer rostigen grauen Kellertür zu entdecken sei. Ist auch sonst im Hause der 20 –jährige Anstrich nie erneuert, der .....Ausstattung der 70er Jahre nichts hinzugefügt, nichts beseitigt worden, spürt Leonora hier unten doch eine merkwürdig kühle Behaglichkeit, die Ihr diesen alten Mann in ein schelmisch - geheimnisvolles Licht zu tauchen scheint. Links hinter der Tür steht ein altes, abgegriffenes edelhölzernes Klavier, daneben ein überdimensionaler dunkelblauer Ball, so hoch, daß man sich kaum vorstellen kann, drauf zu sitzen. Vor dem wandbreiten Fenster zum Garten hin eine eiserne Bank, zum Verweilen offensichtlich, zum Ausruhen bestimmt. Schaut man dieses Möbelstück länger an, so bekommt die großzügige Fensterscheibe dahinter allmälig etwas Störendes, so als führe es zwischen dem Betrachter und dem weiten, dunkelerhabenen Grün eine stickende Trennung herbei.

Langsam wendet sich Leonora zur rechten Seite. Und als sie das gründlich geleerte Bücherregal entdeckt, dreht sie Leo die fragefurchige Stirn zu, wortlos grinsend und gespannt.

„...ja also wissen Sie, ich habe so viele Bücher gelesen, daß ich den Rest meiner Tage doch lieber mit dem Leben selbst verbringe....“ Und mit einem strahlenden Gesicht geht er auf eine vor dem Regal aufgestellte Reckstange zu....Wußten sie, Leonora, daß wir am Morgen größer sind als am Abend? Schauen Sie....“ – er hängt sich affengleich an der Stange ein und während er schwungvoll hin - und herbaumelt, beteuert er. „das mach ich jeden Tag, keine Rückenprobleme mehr. Und wissen Sie was ? Ich bin früher gebeugt gegangen, so etwa...“ und dabei lässt er sich gewichtig auf die Füße fallen und geht mit der Schädeldecke zuerst schwerfällig direkt auf Leonoras Bauchnabel zu. „ Ja, wirklich sehr anschaulich, kann ich nachvollziehen...“ Leonora hat zwei Schritte rückwärts gemacht und während sie nachdenklich die Arme verschränkt, treffen sich beider Augen, wortlos, innehaltend wie die wohlige Ruhe zwischen zwei tief genossenen Atemzügen.

„ Und das alles um sich fit zu halten, gegen das Alter, nur so? “

So als hätte er diese Frage gescheut, geht Leo nun zur Gartenbank und zieht Leonora beherzt heran: „ Setzen sie sich bitte, und sie müssen mir versprechen, daß sie niemanden davon erzählen...“ Zögernd führt er seine Hände vor den Mund, dann noch ein prüfender Seitwärtsblick auf seinen kostbaren Gast, dann beginnt er:“ Also – ich singe.. nein...ich nehme Gesangsunterricht... Ja also es ist eigentlich so, daß ich schon als junger Mann immer davon geträumt habe, Künstler zu sein. Wir waren sehr arme Leute und nach dem Krieg gab es nicht viele Möglichkeiten . Aber ich besuchte einmal einen Liederabend mit Rudolf Schock wissen sie ...und alles war wie ein Traum, diese herrlichen Lieder, Beethoven, Schubert, Brahms - und er sang mit einer Hingabe und seine Stimme schien durch das Dach des Staatstheaters hinaus direkt in den Himmel zu tönen, oder von dort zu kommen, ich kann es gar nicht sagen, aber dieser Abend hat mich verändert, wissen sie, eines Tages, sagte ich mir, lernst du das auch , ja und dann kam alles anders, das Geschäft, meine kranke Frau, die Kinder...“

Jetzt schießt ein unendlicher Strom der Leidenschaft aus ihm heraus und Leonora beobachtet eine Lebendigkeit in den Zügen, wie sie sie bei einem Menschen seines Alters noch nie gesehen hat. Als er ihre Augen auf sich spürt hält er erschrocken inne:

„ Hab ich sie gelangweilt? Nein sie müssen das töricht finden, albern, blöde vielleicht, nein ich hätte nicht anfangen sollen, sie denken doch sicher, was für ein einfältiger, kindischer Greis ich sei...“ Und dann erstickt jeder Laut, beide starren versunken von der eisernen Bank in die wildwuchernde Landschaft hinaus.

Endlose Sekunden vergehn. Eine drohende Stille steigert den Geständigen zunehmend zum Verräter an sich selbst, angstvoll und deprimiert taucht Leo unfreiwillig in Leonoras Schweigen ein, währenddessen sie versunken ihrer zunehmende Bewunderung lauscht. Endlich bricht es aus ihr heraus:

„ das ist… wunderbar! “

„ Häh..? „“ Wie einer, dessen Kind vom Auto überrollt und schließlich unversehrt zwischen den Rädern hervorgezogen wird, taut sein Kreislauf langsam aus der Erstarrung auf...

„ Sie finden das nicht doof, ich meine, mögen sie klassische Musik, äh ich meine, mögen sie singende alte Männer, äh ...mögen sie mich , nein ich meine, könnten sie sich vorstellen....es ist doch schöner, wenn man solche Freuden teilt und ich hatte leider nie die Gelegenheit, meine Frau mochte es nicht, wenn ich sang, ich habe sie all die Jahre gepflegt und nun, wo ich so viel älter bin und sie ist tot,...da darf ich doch mal machen, was mir Freude macht ...und irgendwie habe ich das Gefühl, daß sie...“

Und dann spürt er erlöst Ihre Hände fest die seine umfassen, während sie lachend darauf besteht, daß er ihr den verwilderten Garten zeigt.

Wohin man sich wendet, erfüllt warmes Leuchten den Saal. Die gelbseiden gedeckten Tische stehen in wohlgemessener Distanz zueinander und verraten eine geschulte Hand. Weiße Kerzen, randvergoldetes Geschirr und eine von kleinen Spiegeln und Fotos durchsetzte Seidenwand lassen beim Betrachter keine Zweifel darüber aufkommen, welcher Anlass gegenwärtig gefeiert wird. Es ist Heiligabend. Auf dem natursteinernen Kamin sind zarte Nadelzweige trapiert und drinnen knistert wohlig- warme Glut.

Diskret und doch mit eiliger Gangart tragen schwarzgekleidete Kellner Wein und Champagner zu den Tischen, ebenso diskret flüstern sich Pärchen mit und ohne Kinder freundliche Stimmungen zu. Ein fünfköpfiges Streicherensemble begleitet die Szene und spielt sich sanft in die Gemüter der Anwesenden.

Leonora schiebt vergnügt ein zartes Filetstück in den Mund und brennt den Blick auf der Stirn ihres Frontnachbarn ein. Weiß sind die Haare, wenige sinds, so dass sie Leos Stirn noch höher erscheinen lassen, als sie ohnehin schon war. Ein Funkeln ist in ihren Augen, so als suche sie nach Informationen, die sie verbal nicht einfordern kann.

Wohl um ihre Jahrzehnte geschulte Fassung in der Balance zu halten, dreht sie den Kopf in beide Richtungen und mustert die Dekoration.

„ Wunderschön hier, das ist doch bestimmt sehr teuer alles, und überhaupt….“

Leo grinst ihr entgegen und kaut ungeniert und ausdauernd an einer Spargelstange. Schweigen.

„Alles geschmückt, und das Licht, meine ich…“ Leonoras lange sehnige Finger streichen über ihren Mund und verraten haltsuchenden Sinn.

Hans ist gefangen. Gefangen von dem Gefühl, zum ersten, zum letzten, ja ihm will scheinen, zum einzigen Male in seinem Leben in der Gegenwart einer Frau zu sein, die alles bisher wichtig und erstrebenswert Geltende in den Schatten stellt. Und auch Leonora bemüht sich nicht, in der Erinnerung zu kramen nach vergleichbaren Empfindungen. Zu weit liegt das Lebensgefühl zurück, welches sie beschlich und unwiederbringbar mit der Vergangenheit verbunden schien. Derselbe Puls, dieselbe Scheu und Lust, das Mysterium einer lang ersehnten und gestillten Sehnsucht – und zu dicht ist der zeitlose Augenblick einer späten, bis unter die Fingernägel spürbaren, bewussten, brennenden Liebe.

Und mit der inneren Sicherheit eines Mannes, dessen Augen hören, was ein Mensch sagt, ohne dass er es sagt, pariert er :

„Sie sind hier, das ist Schmuck genug!“

„ Aber wenn Sie jetzt nicht endlich richtig essen, setz ich mich an einen anderen Tisch. Die Leute gucken schon.“ Und tatsächlich, mit leicht gekränkter Miene, dank der Sitzordnung ausserstande, sich gänzlich abwenden zu können, lugt ein junges Mädchen zu den beiden Alten hinüber. Ihre Miene verrät Missbilligung, ja ein Kopfschütteln meint Leo erkannt zu haben, denn im selben Moment flüstert sie ihrem Freund kopfschüttelnd ins Ohr und weist mit der Rechten verstohlen auf Leonora.

Leonora reagiert verletzt: „ Was ist nun eigentlich so versteckenswert, wenn man sich im siebten Jahrzehnt noch mal wie 20 fühlt?!“

“ Das ist ein territoriales Problem. Die Jungen wollen die großen Gefühle für sich allein, denke ich.“

„ Ach…, es gibt nichts, was sie nicht wissen. Ei so sagen sie mir doch: Wie schreibt eigentlich Rabindranat Tagore? „

„ Weiss ich nich…“

„Der Name gefiel mir schon immer. Er ist wie Musik. Und sein Werk ist sehr umfangreich. Drum hab mich nie rangetraut. “

„Sehn Sie, ich auch nich, von dem hab ich nichts gelesen.“

„ Aber sie sind doch an der Quelle. Ach ja, ich weiß schon, sie wollen leben...“ und mit spöttischer Miene wischt sie sich die Lippen ab und setzt nun das Gespräch fort:

„ Wie schmeckt der Wein ?“

„ …Schmeckt so, wie Rabindranat Tagore schreibt, vermute ich.“ Hans grinst verwegen, zieht dann Leonoras Kopf zu sich heran küsst sie auf den Mund.

„ Also neenee, Hans, das war, das ist… Das geht nich… “ Und indem sich Leonora abermals die Serviette über die Lippen zieht, greift, herausgefordert, mit Leonoras Widerstand zu spielen, Leo ihren Kopf nun fest mit beiden Händen und küsst sie erneut, diesmal heftig, innig, lustvoll und ohne Scheu. Ein Weinglas fällt zu Boden.

Dann, sich lösend, bemerkt er an Leonoras schmalem Unterkiefer zartrote Flecken. ...

Copyright 2024 Claudia Dylla